- Waits: Der musikalische Poet als Chronist der Schattenseiten des amerikanischen Traums
- Waits: Der musikalische Poet als Chronist der Schattenseiten des amerikanischen TraumsTom Waits (* 7. Dezember 1949 in Pomona/Kalifornien) ist einer der dienstältesten und bei weitem der erfolgreichste der musikalischen Antihelden, die sich mit der Sturheit des Stoikers den üblichen Vermarktungsmechanismen im Unterhaltungsgeschäft verweigern. Der Mann, der bis heute keinen nennenswerten Singlehit vorzuweisen hat, wurde zum Rockstar, obwohl — oder vielleicht auch eben weil — dieser Stil nur ein Element seines musikalischen Spektrums ist, das von Ragtime über Jazz, Blues und Country bis zu Irving Berlin, Leonard Bernstein und den Opernmoritaten von Bert Brecht und Kurt Weill reicht. Als ausgewiesener Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts hat Waits einen eigenständigen Stil kreiert, der nicht zuletzt durch seine Stimme unverwechselbar wird.Die Faszination der Kultfigur Waits, der auch ein eigenwilliger, aber ausgezeichneter Pianist und Gitarrist ist, liegt jedoch darin, dass er all dies kombiniert mit der Fähigkeit, die trostlose Realität des menschlichen Strandguts amerikanischer Großstädte aus der Sicht des Gossenpoeten mit an Charles Bukowski gemahnender Schonungslosigkeit zu skizzieren. Tom Waits verkörpert dabei die gescheiterten Existenzen und skurrilen Außenseiter mehr als sie bloß zu beschreiben. Dieses Talent prädestiniert ihn für die Parallelkarriere als Schauspieler, der sich in Filmen von u. a. Francis Ford Coppola und Jim Jarmusch mittlerweile ein beachtliches Renommee als Charakterdarsteller erspielt hat. Der vielseitige Künstler, der nebenher Oscar-Nominierungen für von ihm komponierte Soundtracks verbuchen konnte, nutzt seine multimedialen Begabungen in letzter Zeit zunehmend für neue Formen des Musiktheaters und verarbeitet dabei Stoffe wie »Alice im Wunderland«, »Der Freischütz« und »Woyzeck« zu Singspielen, die den Begriff »Musical« auch für Menschen mit gehobenen Ansprüchen wieder gesellschaftsfähig machen.Warmes Bier, kalte Frauen und ein betrunkenes PianoAls Kind geschiedener Eltern wuchs Tom Waits mit zwei Schwestern bei der Mutter auf. Gänzlich gegen den Zeitgeist schwärmte er in den Sechzigerjahren für große amerikanische Komponisten wie Cole Porter und George Gershwin sowie Gesangsstars vergangener Tage wie Perry Como und Bing Crosby. Gitarre und Klavier brachte er sich selbst bei, seinen Lebensunterhalt verdiente er anfänglich als Rausschmeißer und Bartender in Los Angeles in Kaschemmen, die der Bezeichnung »Night Club« höchstens durch die Öffnungszeiten gerecht wurden. Hier schaute er sich nicht nur manchen Trick ab und erweiterte seinen musikalischen Horizont durch Einflüsse, die vom derben Chicago Blues eines Howlin» Wolf bis zum Bebop reichten, sondern kam auch in Kontakt mit Freigeistern, die ihm die Literatur der Beatgeneration von Kerouac bis Ginsberg näher brachten. Waits, der nach eigenen Angaben Musik damals nur als bequeme Form des Broterwerbs betrachtete in der Halbwelt, in der er gestrandet war, verarbeitete seine Eindrücke zu Songs und trat ab 1969 als Barpianist und Interpret düster-melancholischer Balladen auf. Herb Cohen, der als Manager von Frank Zappa und Captain Beefheart bereits zwei notorischen Nonkonformisten zum Erfolg verholfen hatte, war einer der wenigen, die die Qualitäten des spröden Entertainers erkannten, dessen Hauptanliegen es zu sein schien, sich betrunken mit dem ebenfalls nicht nüchternen Publikum anzulegen und die ohnehin schon gereizte Stimmung endgültig zu ruinieren. Er sorgte dafür, dass Waits quasi in Klausur ein Jahr lang an seinen Fähigkeiten feilen und neue Songs schreiben konnte. Danach vermittelte er ihn an Asylum Records, wo 1973 seine Debüt-LP »Closing time« erschien.Das damals altmodisch, heute erstaunlicherweise zeitlos klingende Werk vermittelte dem Titel gemäß die triste Stimmung der Sperrstunde, musikalisch untermalt durch die für die kommenden Jahre typische spärliche Begleitung von Stehbass, akustischer Gitarre, mit Besen statt Stöcken gespieltem Schlagzeug und klagendem Tenorsaxophon.Obwohl die frühen Siebzigerjahre die Blütezeit der »Singer-Songwriter« waren und über Nacht Stars wie Jackson Browne und James Taylor hervorbrachten, lag Waits mit seiner pessimistischen Weltsicht so weit ab vom Trend, dass er mangels Umsatz kaum eine zweite Chance erhalten hätte, wenn nicht mit den Eagles die damals erfolgreichste amerikanische Band seinen Titel »Ol« 55« für ihr Album »On the border« übernommen hätte. So blieb er im Geschäft und eroberte sich einen wachsenden Nischenmarkt mit Alben wie »The heart of saturday night« (1974), »Nighthawks at the diner« (1975), »Small change« (1976) und »Foreign affairs« (1977), die bei gleich bleibender musikalischer Grundstimmung beständig zunehmende kompositorische Qualitäten aufwiesen. Trotz grandioser Songs wie »Diamonds on my windshield«, »Step right up« oder dem später für Rod Stewart zum Hit gewordenen »Tom Traubert«s Blues« wurde Waits allerdings von seinen Fans immer mehr mit den fiktiven Antihelden identifiziert, um die sich seine Balladen drehten. Titel wie »Drunk on the moon«, »Warm beer and cold women«, »Bad liver and a broken heart« oder »The piano has been drinking, not me« verschafften ihm das Image eines mit seiner Krankheit kokettierenden Alkoholikers. Dass dieser Eindruck nicht gänzlich aus der Luft gegriffen war, bewies er mit öffentlichen Auftritten und Interviews, die mit »launisch« noch recht wohlwollend umschrieben wurden, und einer überstrapazierten Stimme, die ohnehin schon gewöhnungsbedürftig war.Wege aus der SackgasseWie einst Bob Dylan, der erklärtermaßen zu seinen Vorbildern zählt, im Vergleich zu diesem jedoch relativ zaghaft, veränderte Waits nun seinen Sound, um ein ungeliebtes Klischee abzuschütteln. Der stark vom Late-Night-Jazz geprägten Besetzung fügte er für die Alben »Blue Valentine« (1978) und »Heartattack and Vine« (1980) elektrische Gitarren, Perkussioninstrumente und Orgel hinzu und erweiterte die Palette seiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten beträchtlich, ohne dadurch sein Image als bizarrer Bänkelsänger der ewigen Verlierer loszuwerden. »Ich fühlte mich wie jemand, der mit einem Fuß am Boden angenagelt ist und sich dadurch ständig im Kreis dreht«, sagte Waits über diese Phase seiner Karriere, in der er sich von Asylum Records trennte (oder umgekehrt). Der Mann, der stets mehr für sich und andere Intellektuelle gespielt hatte, war dem durchschnittlichen Musikkonsumenten bestenfalls als Bürgerschreck bekannt und wurde von Radiosendern grob vernachlässigt. Auf dem Tiefpunkt seiner Karriere erhielt er von Francis Ford Coppola den Auftrag für die Filmmusik zu »One from the heart«. Erstmals hatte er ein fast unbeschränktes Budget, konnte im Studio mit großem Orchester arbeiten und sich dabei viel Zeit lassen. Hier wurde der Songschreiber zum Komponisten, der einen Spannungsbogen erarbeitete und die ganze Geschichte des Films darin unterbrachte. Die Arbeit am Soundtrack brachte ihm durch eine Oscar-Nominierung nicht nur große öffentliche Beachtung ein, sondern auch die Bekanntschaft mit Kathleen Brennan, die die Arbeit der verschiedenen Teams mit dem Drehbuch koordinierte. Sie heiratete den als schrulligen Griesgram verschrienen Waits 1980 und ist bis heute als Beraterin und Ko-Autorin eine feste und festigende Größe in seinem Leben.Internationaler Erfolg und späte Anerkennung eines Multitalents1983 erschien bei Island Records mit »Swordfishtrombones« das erste von drei Alben, die nachträglich als Trilogie betrachtet wurden und mit radikal neuem Sound den großen Durchbruch brachten. Die plötzliche Popularität von Tom Waits Mitte der Achtzigerjahre beruhte auch auf einem Synergieeffekt, den der Musiker durch Haupt- und Nebenrollen in erfolgreichen Filmen wie »Rumble fish«, »The Outsiders«, »Cotton Club« und, vor allem in Europa, »Down by law« erzielte. Musikalisch ging Waits seit »Swordfishtrombones« neue Wege, ohne seine Verwurzelung in Jazz und Blues aufzugeben. Er erweiterte jedoch seine stilistische Bandbreite und hatte plötzlich mehr Ähnlichkeit mit einem dämonischen Voodoo-Priester als mit dem traurigen Barpianisten alter Zeiten. Er kombinierte afrikanische Stammestänze mit Rumba-Rhythmen, fügte Begräbnismärsche aus New Orleans hinzu, garnierte dies mit schneidender Slide Guitar und arrangierte das Ganze im Stil von Kurt Weill. Zusammen mit seiner noch immer gräulich knarzigen, inzwischen jedoch eher provokant-fordernd als deprimiert klingenden Stimme ergab dies ein umwerfendes Gemisch, das keinen Zuhörer kalt lässt. Tom Waits wurde mit dieser eigenwilligen Form der »Weltmusik» zum Favoriten derjenigen, die mit dem sich permanent selbst repetierenden Mainstream ebenso wenig anfangen konnten wie mit Hip-Hop und Techno. Das neue Konzept, das nicht zuletzt auf einem exotischen Instrumentarium basierte, das neben der üblichen Besetzung Sitar, Banjo, Dudelsack und Talking Drum einschloss, wurde auf »Rain dogs« (1985) mit prominenten Begleitern wie John Lurie und Keith Richards fortgesetzt. Hier findet sich auch die Originalversion von »Downtown train«, dem Stück, das erneut für Rod Stewart zum Hit wurde und in Waits« Repertoire einem klassischen Rocksong noch am nächsten kommt. »Frank's wild years« (1987) klang ähnlich, war aber stärker durchstrukturiert und gilt als sein erstes Konzeptalbum. Ein gleichnamiges Stück gab es schon auf »Swordfishtrombones«, und die Figur des Frank, der sich am Ende des Songzyklus von den Zwängen der bürgerlichen Existenz befreit, sein Haus anzündet und mit seinem Straßenkreuzer in der Nacht verschwindet, weist gelegentlich deutliche Parallelen zur Vita seines Autors auf. Noch bevor das Album erschien, gab Waits in Chicago sein Debüt als Bühnenschauspieler in der Theaterfassung von »Frank's wild years«. Waits krönte diese triumphale Schaffensphase 1988 mit »Big time«, einem Konzertmitschnitt, der die besten Stücke der letzten drei Alben zusammenfasste und mit packenden Liveversionen die Faszination dokumentiert, mit der Waits ein Publikum fesseln kann.Der etablierte Künstler in den NeunzigerjahrenAnfang der Neunzigerjahre war Waits als Schauspieler wieder in Hollywoodfilmen wie »Der König der Fischer« und »Dracula« zu sehen. In den folgenden Jahren war er ganz oder teilweise zuständig für die Soundtracks von »Night on earth«, »Twelve monkeys«, »Smoke«, »Dead man walking« und »Sea of love«. 1990 begann die langjährige Zusammenarbeit mit dem Bühnenautor Robert Wilson, mit dem er »The black rider« verfasste, ein Stück, das auf Carl Maria von Webers romantischer Oper »Der Freischütz« basiert. Das Werk, das mehr einer avantgardistischen Oper als einem Musical ähnelt, wurde 1990 im Hamburger Thalia Theater uraufgeführt, eigene Versionen der darin enthaltenen Songs von Waits erschienen 1993 auf CD. Das zweite Ergebnis der Kooperation mit Wilson war 1992 das surreale Singspiel »Alice«, eine sehr freie Adaption der »Alice im Wunderland« von Lewis Caroll. Für weniger kulturbeflissene Fans erschien 1992 mit »Bone Machine« ein neues Album, das wieder die mittlerweile gewohnten schrägen Klänge und hervorragende Songs bot. Dass Waits für amerikanische Ohren noch immer zu exotisch klang, beweist die Tatsache, dass er dafür zwar seinen ersten Grammy verliehen bekam, diesen jedoch in der Sparte »Alternatives Album des Jahres«. Abgesehen von einigen Beiträgen zu Filmen hörte man daraufhin für lange Zeit wenig Neues von Tom Waits. Der einstige Totengräber des amerikanischen Traums genoss das Familienleben, gab selten Konzerte und tüftelte im Stillen an neuen Ideen. Erst 1999 meldete er sich höchst aktiv zurück. Er produzierte mit seinem alten Zechkumpan Chuck E. Weiss, mit dem er schon vor dreißig Jahren um die Häuser gezogen war, dessen Album »Extremely cool« (Ryko Records) und stimmt mit ihm Sauflieder und Hymnen auf Stripperinnen und glücklose Zocker wie in besten alten Tagen an. Besinnlicher, aber keineswegs zahnlos ausgefallen ist in diesem Jahr sein eigenes Album »Mule variations«. Tom Waits hat in der Zeit seines freiwilligen Rückzugs wunderbar abgeklärte, von Altersweisheit geprägte Songs mit fast schon ländlichem Charakter geschrieben, ohne seinen Sinn fürs Skurrile zu verlieren, und führt erneut vorher nie gehörte Instrumente wie Chumbus, Optigon und Dousengoni in die Rockgeschichte ein. Dass sein Herz noch immer den Verlierertypen gehört, zeigen neueste Meldungen, die besagen, dass er im Jahr 2000 zusammen mit Robert Wilson eine Neubearbeitung von Büchners »Woyzeck« zur Uraufführung bringen will.Closing time (1973)Heart of Saturday night (1974)Nighthawks at the diner (1975)Small change (1976)Foreign affairs (1977)Blue valentine (1978)Heartattack and vine (1980)One from the heart (1982)Swordfishtrombones (1983)Rain dogs (1985)Frank's wild years (1987)Big time (1988)Bone machine (1992)The black rider (1993)Mule variations (1999)Tom Waits - die Ballade vom anderen Amerika, bearbeitet von
Universal-Lexikon. 2012.